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Dienstag, 25. November 2014

Timothy Snyder: Der König der Ukraine

Als Wiener wächst man mitten im architektonischen Erbe der Habsburger, aber auch in ihrem imperialen Kitsch auf. Wie wenig wissen wir allerdings von diesem Herrschergeschlecht, das jahrhundertelang die Geschichte Europas maßgeblich beeinflusste. Nach dem Ende des ersten Weltkriegs scheint es, als wären sie plötzlich verschwunden und die Geschichte ihres Hauses auf wenige Anekdoten zusammengeschrumpft.
Der Historiker Timothy Snyder, Experte für osteuropäische Geschichte, erzählt in seinem Buch "Der König der Ukraine" das Leben von Wilhelm von Habsburg, der kurz vor Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Pola an der Adria geboren wurde und Zeit seines Lebens plante Herrscher der Ukraine zu werden.
Manche Habsburger wussten, dass die Idee der Nation nicht aufzuhalten war, ihrer Ansicht sprach aber nichts gegen einzelne Nationen, die von Habsburgern beherrscht werden würden. So plante sein Vater ein Königreich Polen und Wilhelm den Zusammenschluss der ukrainischen Gebiete zu einem vereinigten Fürstentum.
Der Plan war mit dem Verlust des Krieges nicht gestorben und überhaupt endete der erste Weltkrieg im Osten erst um einiges später. Während des Krieges und auch danach agierte Wilhelm, als "roter Prinz" bezeichnet, mit einer Kampfgruppe im Gebiet der Ukraine. Das tat er auch gegen den Willen des Verbündeten Deutschland, der die Ukraine nur als Kornkammer sah. (Diese Ansicht sollte sich im zweiten Weltkrieg wiederholen.)
Selbst im Exil agierte er für eine unabhängige Ukraine, spionierte im zweiten Weltkrieg für Engländer und Franzosen und wurde 1948 von den Sowjets in Wien entführt, monatelang in Baden verhört und starb daraufhin an den Folgen der Verhöre in Kiew.
Neben der hochinteressanten Lebensgeschichte ist es faszinierend zu lesen, welche machtpolitischen Konstrukte Staaten und Nationen darstellen. Die Idee einer Nation brauchte zu Beginn permanentes Marketing um sich in den Köpfen der Bevölkerung festzusetzen. Vor dem ersten Weltkrieg stand es den privilegierten Schichten frei zu reisen oder sich für einen Staat zu entscheiden und damit die eigene Lebensgeschichte neu zu erfinden.

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