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Dienstag, 25. November 2014

Jules Barbey d'Aurevilly: Der Chevalier des Touches

Barbey d'Aurevilly gehört zu den fast vergessenen französischen Autoren des 19. Jahrhunderts. Warum seine Romane nicht so bekannt sind wie die von Victor Hugo oder Dumas, ist nicht ganz klar, aber das Nachwort von Heinrich Mann weist darauf hin, dass er kein Liebling der Kritiker war und in vorrevolutionärer Haltung dem alten Frankreich nachhing, somit ein verspäteter Romantiker war, ein aus der Zeit gefallener. Solches verzeiht der Literaturbetrieb nicht (damals nicht und heute schon gar nicht). Es ist dem Verlag Matthes & Seitz zu verdanken, dass dieser Autor aus den Tiefen der Weltbibliothek herausgestöbert wurde.
Der Roman beginnt wie ein englischer Schauerroman: An einem regnerischen Dezemberabend treffen sich fünf alte Aristokraten um sich am Kaminfeuer die Zeit zu vertreiben. Einer von ihnen hat ein Gespenst gesehen; den tot geglaubten Chevalier des Touches, einen Helden der lang vergangenen Chouan-Aufstände gegen das revolutionäre Frankreich. 
So kommt es, dass das Fräulein de Percy (eine hässliche alte Dame) die Geschichte von der Entführung des Ritters des Touches, den man im Londoner Exil die schöne Helena nannte, aus der Gefangenschaft der Revolutionäre erzählt. Das alte Fräulein lässt den Guerillakrieg einer kleinen Anzahl von Royalisten aufleben, der in den Wäldern und Heckenlandschaften der Normandie geführt wird. Obwohl jede Hoffnung auf einen Sieg verschwunden ist, kämpfen die "Jäger des Königs" ihre kleinen Scharmützel mit Witz und Mut. Zwölf Krieger unternehmen die Befreiung des Ritters des Touches und nicht alle werden zurückkehren. Selbst die Überlebenden werden wenig Dank von den wieder eingesetzten Bourbonen erben, denn die Zeit der Ritterlichkeit ist endgültig vorüber und d'Aurevilly ist der Barde ihres Abgesanges.

Alan Bradley: Die Flavia de Luce Krimis

"A guilty pleasure" würde es meine jüngste Schwester nennen und um eine ebensolche geht es auch in dieser Krimiserie. Die elfjährige Flavia de Luce lebt in den 1950er Jahren auf dem Anwesen Buckshaw, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Zum Inventar von Buckshaw zählen neben unzähligen Räumen und alten Einrichtungsgegenständen, die beiden älteren Schwestern, ein Briefmarken sammelnder Vater (Colonel de Luce), eine klatschsüchtige, aber unfähige Köchin und ein kriegstraumatisierter Butler.
Flavia lebt in einem abgeschiedenen Flügel des Herrenhauses und geht dort in dem alten Labor ihres Onkels ihrer großen Liebe, der Chemie (mit Spezialisierung auf Gifte), nach.
Als eines Tages ein toter Vogel mit einer Briefmarke im Schnabel auf der Türschwelle liegt und nur wenig später ein Mann im Gurkenbeet von Buckshaw sein Leben aushaucht, beginnt die Ermittlerkarriere von Flavia. Um es mit ihren Worten zu sagen: "Ich wünschte ich könne sagen, dass ich mich fürchtete, aber das war nicht der Fall. Ganz im Gegenteil war es gewiss das Interessanteste, das mir jemals passierte."
So reitet sie auf ihrem treuen Fahrrad Gladys gegen das Verbrechen aus, versucht der Polizei immer einen Schritt voraus zu sein und bringt sich damit in die unmöglichsten Situationen.
Die Dialoge sind feinstes britisches Kammerspiel, auch wenn ihr Autor ein über Siebzigjähriger Kanadier ist. Jenseits der nebligen Skandinavienkrimis und der psychopathischen Mordserien strahlen die Flavia de Luce-Krimis wie ein englischer Garten nach einem leichten Sommerregen.

Timothy Snyder: Der König der Ukraine

Als Wiener wächst man mitten im architektonischen Erbe der Habsburger, aber auch in ihrem imperialen Kitsch auf. Wie wenig wissen wir allerdings von diesem Herrschergeschlecht, das jahrhundertelang die Geschichte Europas maßgeblich beeinflusste. Nach dem Ende des ersten Weltkriegs scheint es, als wären sie plötzlich verschwunden und die Geschichte ihres Hauses auf wenige Anekdoten zusammengeschrumpft.
Der Historiker Timothy Snyder, Experte für osteuropäische Geschichte, erzählt in seinem Buch "Der König der Ukraine" das Leben von Wilhelm von Habsburg, der kurz vor Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Pola an der Adria geboren wurde und Zeit seines Lebens plante Herrscher der Ukraine zu werden.
Manche Habsburger wussten, dass die Idee der Nation nicht aufzuhalten war, ihrer Ansicht sprach aber nichts gegen einzelne Nationen, die von Habsburgern beherrscht werden würden. So plante sein Vater ein Königreich Polen und Wilhelm den Zusammenschluss der ukrainischen Gebiete zu einem vereinigten Fürstentum.
Der Plan war mit dem Verlust des Krieges nicht gestorben und überhaupt endete der erste Weltkrieg im Osten erst um einiges später. Während des Krieges und auch danach agierte Wilhelm, als "roter Prinz" bezeichnet, mit einer Kampfgruppe im Gebiet der Ukraine. Das tat er auch gegen den Willen des Verbündeten Deutschland, der die Ukraine nur als Kornkammer sah. (Diese Ansicht sollte sich im zweiten Weltkrieg wiederholen.)
Selbst im Exil agierte er für eine unabhängige Ukraine, spionierte im zweiten Weltkrieg für Engländer und Franzosen und wurde 1948 von den Sowjets in Wien entführt, monatelang in Baden verhört und starb daraufhin an den Folgen der Verhöre in Kiew.
Neben der hochinteressanten Lebensgeschichte ist es faszinierend zu lesen, welche machtpolitischen Konstrukte Staaten und Nationen darstellen. Die Idee einer Nation brauchte zu Beginn permanentes Marketing um sich in den Köpfen der Bevölkerung festzusetzen. Vor dem ersten Weltkrieg stand es den privilegierten Schichten frei zu reisen oder sich für einen Staat zu entscheiden und damit die eigene Lebensgeschichte neu zu erfinden.

Sonntag, 16. November 2014

Chris Yates: Nightwalk

Vor den paar Zeilen über das Buch von Chris Yates soll hier eine Lanze für das im englischsprachigen Raum bekannte "Nature Writing" gebrochen werden. Vor allem britische Schriftsteller stehen wie grüne Inseln in einem Meer an Fach(ähnlicher)literatur, die sich größtenteils mit der menschlichen Psyche (Glück!), dem schnöden Mammon und der Gesundheit beschäftigt, nicht zu vergessen mit der Abfolge von menschlichen Katastrophen, die Geschichte genannt wird.
Die Nature Writer beschreiben Natur und Landschaften in ihrem eigenen subjektiven Erleben, aber sehr oft mit wissenschaftlichem Hinterbau. Das ermöglicht dem Leser ein intuitives Verständnis und schärft den Blick für Zusammenhänge in unserer Umwelt. Gleichzeitig hat man das Gefühl an der frischen Luft gewesen zu sein.
In der deutschen Literatur ist dieses Steckenpferd weitgehend unbekannt und wenn sich doch einmal wer darin versucht, wird die Eskapismus- und Romantik-Keule gezogen.
So kenne ich also die englische Fauna und Flora besser als meine österreichische, wandle durch englische Hohlwege, schwimme in englischen Flüssen und verbringe meine Lese-Zeit in abgelegenen Hütten.
Der passionierte Angler und Schriftsteller Chris Yates unternimmt in einer Mittsommernacht eine Wanderung in den englischen Downs. Der Marsch führt ihn von der Dämmerung in die nächtliche Stille und zurück in den von Vögeln besungenen Morgen. Die Nachtwanderung steht stellvertretend für viele andere, die er in seinem Leben unternommen hat. So trinken wir mit ihm eine letzte Kanne Tee, lauschen den Abendvögeln, hören das Rascheln eines Dachses, den Flügelschlag einer Eule, bewundern die verwandelte Landschaft und räsonieren über das Verschwinden der Nachtigallen. In sechsundzwanzig kurzen Kapiteln durchwandern wir mit dem Autor die Nacht um glücklich in das noch schlafensstille Haus und und zu einer weiteren Kanne Tee zurückzukehren. So wenig braucht es um glücklich zu sein. Wobei wir wieder bei der menschlichen Psyche wären...


Dienstag, 4. November 2014

Michael Chabon: Telegraph Avenue

Michael Chabon erzählt diesen Roman wie Thomas Pynchon, der sich plötzlich um seine Lesbarkeit sorgt, allerdings nachdem er eine Überdosis Quentin Tarantino eingenommen hat; letztendlich schreibt Chabon doch wie er selbst.
Telegraph Avenue ist ein barockes Werk über einen Plattenladen in Oakland (USA), dessen Besitzer sich von dem Projekt eines riesigen Kaufhaustempels in ihrer Nachbarschaft bedroht fühlen. Gleichzeitig ist es aber auch ein Roman über die Popkultur, Jazz, Kung-Fu Filme, Hebammen, die Black Panther Bewegung, Vaterschaft (gewollt und ungewollt), schwule Söhne, bipolare Väter, ... Diese Liste ließe sich noch sehr lange weiterführen. 
In all der Themenfülle ist es zwar ein sehr lesbares Werk, gleicht aber einer Torte mit zu vielen Schichten und Verzierungen, denn letztendlich weiß man nicht, was man da eigentlich gegessen hat. Selbst Barack Obama bekommt einen Gastauftritt. Um es an einem Punkt festzumachen könnte man sagen, es drehe sich die Geschichte um zwei Familien, von denen eine noch nicht weiß, dass sie eine ist.
Was das mit dem Plattenladen zu tun hat?
Stürzen Sie sich in die schlagobersgekrönte Torte, genießen Sie die perfekt geschriebenen Szenen, ignorieren sie Anspielungen, die Sie als Mitteleuropäer nicht verstehen und suchen Sie einfach die Schichte, die Ihnen am besten schmeckt!